Autorin Stefanie Kloft

Hochsensibel – der neuste Trend?

Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit dem (hochsensiblen) Bruder meines Mannes. Als in Rahmen seiner theologischen Ausbildung das Thema Hochsensibilität aufkam war sein Eindruck, hochsensibel sein lag gerade bei seinen Mitstudentinnen plötzlich voll im Trend. Trend? Das kann zu einer falschen Wahrnehmung von Hochsensibilität führen.  Zeit, mit einigen vorschnellen Schlüssen aufzuräumen.
In einer leistungsorientierten schnelllebigen Gesellschaft spüren die hochsensiblen Menschen immer stärker die Diskrepanz zwischen ihrem Naturell und ihrer Umgebung. Und Teile der Gesellschaft sehnen sich immer stärker nach einem positiven Gegenpol zum wachsenden Druck. Hochsensibilität ist kein Mode-, sondern ein Zeitphänomen.

Fünf Fehleinschätzungen mit denen ich aufräumen möchte, um das Thema Hochsensibilität besser zu verstehen:

1. Hochsensibilität ist ein Übersetzungsfehler

„Sei doch nicht so empfindlich!“ „Du bist ein richtiges Sensibelchen.“
Die Worte sensibel und empfindlich sind im deutschen Sprachgebrauch negativ belegt, vor allem im Bezug auf Männer. Aber auch hochsensible Frauen haben sicherlich schon solche oder ähnliche verletzende Bemerkungen gehört.
Kein Wunder, dass mein Kollege abwehrend reagierte, als wir zum ersten Mal auf das Thema zu sprechen kamen. Eine Erklärung für sein Wesen zu finden war erleichternd, aber sie sollte bitte nicht „sensibel“ heißen!
Elaine Aron, die Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilität, prägte in den 90er Jahren im Englischen den Begriff „highly sensitive person“. Das Wort „sense“ (oder „sensory“) steht für die Sinneswahrnehmung, die deutsche Übersetzung „sensibel“ ist somit ungenau. Denn Sensibilität wird oft mit Empfindsamkeit oder Einfühlungsvermögen gleichgesetzt, das ist aber nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit geht es bei Hochsensibilität (der Einfachheit halber bleibe ich bei der ungenauen, aber eingebürgerten Übersetzung) um die Intensität von Sinneseindrücken, die vom Nervensystem vorgefiltert im Gehirn verarbeitet werden. Dabei sind alle Sinne, wenn auch unterschiedlich stark, betroffen: sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen (sensorisch) und fühlen (empathisch).

2. Hochsensibilität ist keine Krankheit oder körperliche Einschränkung

„Hab dich doch nicht so!“ „Wenn du dich nur richtig anstrengst, kannst du das abtrainieren.“ Solche Bemerkungen sind ungefähr so sinnvoll, wie einem kleinen Menschen zu sagen, mit etwas Anstrengung könnte er noch ein paar Zentimeter wachsen.
Hochsensibilität ist eine angeborene Variation des Nervensystems, ein Persönlichkeitsmerkmal, was konstant durch alle Kulturen und Epochen hinweg 15-20% aller Männer und Frauen (und hoch entwickelten Säugetiere) betrifft. Ich vergleiche den Unterschied der Nervensysteme gern mit zwei Sieben. In meiner Küche hängen ein Nudelsieb (mit großen Löchern) und ein Reissieb (mit kleinen Löchern). Niemand würde auf die Idee kommen, Reis über das Nudelsieb abzugießen, denn dann landet die Hälfte im Abfluss. Also haben beide Siebe ihre Berechtigung und ihren Nutzen. Auf das Nervensystem übertragen: Bei einem hochsensiblen Menschen ist das Sieb (der Filter des Nervensystems) so „durchlässig“, dass viel mehr Informationen  zum Gehirn vordringen und dort verarbeitet werden müssen. Bei einem normalsensiblen Menschen filtert das Nervensystem im Vorfeld mehr Informationen aus. Folglich ist der Speicher im Gehirn nicht so schnell voll. 

3. Hochsensibel ist man oder man ist es nicht

Grundsätzlich ist jeder Mensch in einem gewissen Maß sensibel bzw. empathisch. Es mag also empfindsame Menschen geben, die deshalb aber nicht zwingend hochsensibel sind, genauso wie es hochsensible Menschen gibt, die nicht besonders einfühlsam sind.
Da sich Hochsensibilität auf die Funktionsweise des Nervensystems bezieht und angeboren ist, liegt es nahe, dass man es nicht im Laufe des Lebens erwerben oder ablegen kann (höchstens unterdrücken). Mehr noch: Der Nobelpreisträger Iwan Pawlow machte Anfang des 20. Jahrhunderts Versuche zur Empfindsamkeit. Dabei setzte er Versuchspersonen einem ansteigenden Lärmreiz aus. Er stellte fest, dass eine Gruppe von etwa 15-20% sehr schnell an ihre Belastungsgrenze kam, während die restlichen ca. 85% erst viel später abwehrend auf den Reiz reagierten. Daraus folgerte er zum einen, dass die Nervensysteme der zwei Gruppen sich voneinander unterschieden und zum anderen, dass Hochsensibilität nicht allmählich ansteigt, sondern klar von Normalsensibilität abzugrenzen ist.

4. Hochsensibilität ist kein „modernes Phänomen“

Zwar ist die Begrifflichkeit der Hochsensibilität erst im letzten Jahrhundert geprägt worden, doch am Beispiel von Pawlow sehen wir, dass schon viel früher zu dem Thema geforscht und geschrieben wurde. In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasste der deutsche Psychologe Eduard Schweingruber sein Werk zum „sensiblen Menschen“. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, da in der damaligen Gesellschaft vor allem Belastbarkeit und Leistungsorientierung zählten.
Schon viel früher, genauer gesagt im 4. vorchristlichen Jahrhundert verfasste Hippokrates die Temperamentenlehre und unterteilte die Menschen in vier Typen: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker. Unter einem Melancholiker verstand man zu dieser Zeit einen „introvertierten Denker“ (Ausnahmen bestätigen die Regel) mit künstlerischer Begabung, Menschenkenntnis und Intuition, der tiefsinnig denke und ein starkes Rückzugsbedürfnis habe. Das kommt dir bekannt vor? Mir auch.

5. Es geht nicht um richtig und falsch

Nach all diesen Ausführungen könnte man meinen, ich möchte Hochsensible vom Rest der Gesellschaft abgrenzen. Darum geht es aber nicht! Mir ist vor allem wichtig, aufzuzeigen, dass es völlig normal und legitim ist, wenn zwei verschiedene „Menschentypen“ existieren. Du bist weder besser noch schlechter, wenn du hochsensibel bist. Du bist anders und das ist richtig so.
Forschungen zu Hochsensibilität im Tierreich haben gezeigt, dass bestimmte Tiere in ihrer Gruppe als „Signalgeber“ dienen. Sie sind aufmerksamer und wittern Gefahr schneller. Damit nehmen sie eine besondere Stellung ein (dieser Platz ist nicht besser oder schlechter, es ist einfach ihr Platz).
In den verschiedensten Gesellschaften der Geschichte kamen den Hochsensiblen spezielle Aufgaben bzw. Plätze zu: Künstler, Ratgeber, Propheten. Dass dieser anerkannte Platz in der heutigen westlich geprägten Gesellschaft immer schwerer zu finden ist, heißt nicht, dass es falsch ist hochsensibel zu sein. Möglicherweise werden die Signalgeber, die tiefsinnigen Denker, die Künstler und Entschleuniger heute mehr denn je gebraucht.

Wo ist unser Platz heute? Ich habe noch keine abschließende Antwort für mich gefunden. Aber eins weiß ich: Es geht nicht um richtig und falsch sondern um richtig und richtig!

Wo siehst du deinen Platz? Und womit hast du besonders zu kämpfen?

Bleib dir treu!
Deine Stefanie

 

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