“Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen und du wirst ihn verstehen.”
Indianisches Sprichwort
Wie oft ist uns das schon passiert? An der Kaffeetafel, am Stammtisch oder in der Mittagspause kommt man ins Gespräch über Gerechtigkeit. Oder besser über Ungerechtigkeit. Über steigende Preise, Pay Gap, die Schere zwischen arm und reich, Niedriglohnsektor und Chancenungleichheit. Manchmal könnten wir verzweifeln ob der vielen Ungerechtigkeiten, mit denen wir konfrontiert werden. Wir wünschen uns Gerechtigkeit. Gerechtfertigte Preise, faire Löhne für faire Arbeit, gleiches Recht für alle. Zumindest für alle, die uns ähnlich sind.
Denn es gibt ja noch die “anderen”. Die, die jeden Monat den gleichen Betrag auf dem Konto haben wie jemand, der einen Vollzeitjob im Mindestlohnbereich hat – dafür aber nicht arbeiten. Die, die sich auf Kosten des Staates “einen Lenz machen”. Die viele Kinder bekommen und deren Zukunft dann genauso aussieht, wie das Leben der Eltern heute. Die mit steigenden Preisen genauso konfrontiert werden, aber deren Bezüge wir ungern erhöht sehen möchten.
Vielleicht kennst du diese Vorverurteilungen. Vielleicht hast du sie selbst schon geäußert und dir dabei genau diese Frage gestellt: Ist das nicht ungerecht?
Seit fast zwölf Jahren arbeite ich in einem christlichen Verein, der in einem klassischen, ostdeutschen Plattenbauviertel – einem sogenannten Brennpunkt – sozialdiakonisch tätig ist.
Vor einiger Zeit erhielt ich eine Nachricht meiner Kollegin. Sie fragte, ob wir noch Schuhe im Haus hätten. Es gibt im Lager unseres Vereins eine Kiste mit Notfallkleidung; für den Fall, dass ein Kind dringend einen warmen Pullover oder eine frische Unterhose benötigt. Und es gibt auch eine Handvoll neuer Sportschuhe.
An diesem Tag war ihr Danny (Name geändert), ein quirliger Grundschüler, zum wiederholten Mal aufgefallen, da er ziemlich ausgetretene Schuhe trug. Seine Zehen guckten schon vorn heraus, weil die Schuhe ihm zwei Nummern zu klein waren. Die Sohle war so kaputt, dass er mit den Füßen auf dem blanken Boden lief. Meine Kollegin bat ihn, die Schuhe auszuziehen und gab ihm dafür ein Paar neue.
Viele Kinder, die in widrigen Umständen aufwachsen, fallen durch die Raster der sozialen Gerechtigkeit. Sie müssen früh Verantwortung übernehmen und erwachsen werden, sind in ihrem Umfeld mit vielfältigen Herausforderungen wie Suchterkrankungen, Arbeitslosigkeit und psychischen Problemen konfrontiert, ihnen fehlt die elterliche Unterstützung in schulischen Fragen oft schon ab dem Grundschulalter. Sie haben nicht die gleichen Chancen auf Teilhabe, Bildung und ein gesundes, sicheres Aufwachsen, wie Kinder aus der Mittel- und Oberschicht. Sie stecken fest im gleichen Teufelskreis, wie ihre Eltern schon: Bildungsferne – Armut – Perspektivlosigkeit – Sucht. Und sie haben sich dieses Leben nicht ausgesucht. Ist das nicht ungerecht?
Eine Kirchgemeinde lud mich ein, in einem Gottesdienst zum Thema “Gerechtigkeit” von unserer Arbeit zu erzählen. Eine der vorbereiteten Fragen lautete: Was wünschst du dir für die Arbeit des Vereins?
Ich nahm Dannys Schuhe mit nach vorn. Diese Schuhe, die schon beim Anschauen weh tun. Und ich äußerte meinen Wunsch: Dass gerade wir, die wir gesegnet sind mit einem privilegierten Leben – einem sicheren Einkommen, einem bezahlbaren Dach über dem Kopf, einem unterstützenden Freundeskreis, einer stabilen Familie, einem erfüllenden Hobby – gedanklich in Dannys Schuhe schlüpfen und hundert Schritte darin gehen. Um zu spüren, um nachvollziehen zu können, warum manche Menschen in ihrem Leben einfach nicht vorwärtskommen. Um zu verstehen, wo und warum ihnen der Schuh drückt. Um ein kleines bisschen teilzuhaben an ihrem Leben. Um ihnen und ihren Herausforderungen und Bedürfnissen abseits der Vorurteile gerecht zu werden.
In der Bibel steht im Buch Jesaja eine simple Aufforderung: Brich dem Hungrigen dein Brot.
Dort steht nicht, dass uns der Hungrige vorher erst glaubhaft versichern muss, dass er alles dafür getan hat, den Hunger aus eigener Kraft abzuwenden. Dort steht auch nicht, dass wir nur dem Hungrigen unser Brot brechen sollen, der unverschuldet in Not geraten ist.
Brich dem Hungrigen auch nicht irgendein Brot, sondern deines. Lass ihn teilhaben, schenke ihm ein Stück von deinem Leben, deiner Zeit, deiner Liebe, deinem Segen. Und von deinem Verständnis.
Brich dem Hungrigen dein Brot (…), dann wird dein Licht aufleuchten wie die Morgenröte. (…)
Deine Gerechtigkeit geht dir voraus und die Herrlichkeit Gottes folgt dir. (Jes. 58,7-8)