Autorin Stefanie Kloft

Unbezahlbar

Vor ein paar Tagen bekamen wir eine Nachricht von Joel (Name geändert). Er schickte uns ein Foto von den fertig aufgebauten Lego-Sets, die Samuel ihm zum 11. Geburtstag geschenkt und über die er sich sehr gefreut hatte.
Wir lernten Joel während einem unserer Legostadt-Wochenenden kennen, die wir ein paarmal im Jahr innerhalb und außerhalb des Landkreises Stendal veranstalten. So weit, so normal. Aber Joel war nicht irgendein Teilnehmer gewesen. Er hatte die Löwen-Familie gestohlen.

Wenn es um unsere Lego-Stadt geht, sind Samuel und ich ziemliche Nerds. Ständig finden wir neue Teile, die wir in die Stadt integrieren wollen oder optimieren die Sortierung der etwa 200.000 Legoteile. Meine neuste Errungenschaft war eine Löwen-Familie für den Lego-Zoo – Männchen, Weibchen und zwei Löwenjunge. Kurz vor Beginn eben jener Lego-Bauzeit sortierte ich die neuen Teile in die Zoo-Kiste ein.
Eine Mitarbeiterin aus dem Ort, wo wir zu Gast waren, machte sich kurz darauf mit zwei Mädchen daran, den Zoo aufzubauen. Sie sichteten die verschiedenen Tiere und entwarfen einen Plan, wie sie die Gehege anordnen wollten. Als sie von einer Trinkpause zurückkamen, war die Löwen-Familie verschwunden.
Nun verschwinden bei jedem Lego-Einsatz Kleinteile, das ist nichts neues für uns. Bei ganz neu hinzugefügten Teilen ist es ärgerlich, keine Frage. Also suchten wir nach den Löwen. Die Kinder suchten mit. Vielleicht hatte sie ja jemand einfach in seinen Lego-Vorgarten gestellt, oder irgendwo auf der Bauplatte versteckt? Die Möglichkeit bestand zwar, ich schätzte sie aber gering ein – viel wahrscheinlicher war, dass sie sich in die Hosentasche eines Kindes „verirrt“ hatten. Die Löwen waren verschwunden.
Am nächsten Tag vermisste ein Junge das Polizeimotorrad aus einem Legoset, das er zusammengebaut hatte und ein anderer eine kleine Taucherfigur. Wir suchten gemeinsam die Platte ab – manchmal stellen Kinder die Bausets von anderen um, weil sie eine bestimmte Szenerie im Kopf haben. Aber das Motorrad und der Taucher waren unauffindbar. Zur gleichen Zeit fiel mir das Verhalten eines Jungen auf. Was genau es war, kann ich nicht sagen – vielleicht die Art, wie er in die Sortierkisten schaute oder die Bausets sichtete, die ich auf meinem Tisch ausgelegt hatte.
Ob er denn auch viel Lego zuhause hatte?, wollte ich von ihm wissen. Er verneinte.
Es war nur ein Bauchgefühl. Aufgrund eines Eindrucks ein Kind des Diebstahls zu verdächtigen, ist keine schöne Sache und auch nicht fair.
Aber Samuel beschloss, es zumindest zu versuchen. Wir hatten diese eine Chance, am Abend würden wir die Stadt zur Besichtigung freigeben, danach würden die Kinder nach Hause fahren und das wäre es gewesen. Aber was wollten wir eigentlich erreichen? Die Löwenfamilie könnte man ersetzen, ebenso wie das Polizeimotorrad. Außerdem wissen Kinder sehr wohl, dass stehlen nicht in Ordnung ist, dafür muss man sie nicht erst überführen. Aber das war auch nicht der Kern unseres Anliegens.
Die Art, wie die verschiedenen Teile verschwunden waren, zeugte davon, dass da jemand nicht zum ersten Mal stahl. Da war ein Kind, das über mehrere Tage dem Druck standhielt. Alle anderen suchten nach den Löwen und es machte trotzdem noch weiter. Wir wollten ihm die Chance bieten, auszusteigen. Eine neue Erfahrung zu machen.

Am Anfang stritt Joel alles ziemlich glaubwürdig ab. Er bot Samuel sogar an, seine Taschen durchsuchen zu können. Und Samuel bot ihm an, keinem der anderen Kinder und der ortsansässigen Mitarbeiter davon zu erzählen. Auch seinen Eltern nicht. Er bot ihm die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen. Da bröckelte Joels Widerstand und schließlich gab er alles zu. Die Löwen, das Motorrad, der Taucher, die zwei Krokodile, der Sägefisch, die Kuh … Er war wie befreit und wollte alles zurückgeben, obwohl die meisten Teile bereits sicher in seinem Kinderzimmer verstaut waren.

Es gibt zwei Möglichkeiten, auf so eine Situation zu reagieren: man kann die Unehrlichkeit bestrafen. Den Diebstahl öffentlich machen, das Kind zwingen, sich vor allen anderen zu entschuldigen oder die Eltern informieren und es nach Hause schicken.
Und man kann die Ehrlichkeit belohnen.
Das eine kann dazu führen, dass Joel seine Methoden perfektioniert. Bloß nicht noch mal erwischt werden! Bloß keinem vertrauen! Denn der Grund für sein Verhalten, der Wunsch danach, ebenfalls so schönes Spielzeug zu besitzen, dazu zu gehören, bleibt ja bestehen.
Das andere kann dazu führen, dass er einen gesunden Umgang mit Fehlern lernt. Dass es in Ordnung ist, Fehler zuzugeben und dies nicht gleich Gesichtsverlust und Bloßstellung bedeutet. Dass der Ehrliche nicht automatisch der Dumme ist. Dass nach jedem Versagen auch erhobenen Hauptes ein Neuanfang möglich ist. Aus einem Kind mit so einem Erfahrungsschatz wird ein Erwachsener mit gesunder Fehlerkultur. Ein Erwachsener, der weder aus Angst noch aus Stolz vermeidet, die eigenen Fehltritte, Unzulänglichkeiten oder Irrungen zuzugeben und der genau das auch seinem Umfeld zugesteht.
Die Löwen zu ersetzen hätte uns zwanzig Euro gekostet. Die Erfahrung, die Joel und wir machen durften, ist unbezahlbar.

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