Ungeduldig riss mir die schmächtige Siebenjährige mit den verwaschenen Leggings mein Mitbringsel aus der Hand. Es war eine Papiertüte mit gebrauchter Kleidung, die sie sofort begutachtete und mit Begeisterungsstürmen versah. Eine pinke Bluse, ein Paar Sportschuhe, ein T-Shirt mit „Hello Kitty“-Pailletten. Und ein rosa-türkis-gelb-gestreiftes Sommerkleid.
„Guck mal!“, rief sie überwältigt und hielt ihrer Mutter das Kleidungsstück unter die Nase. „Ein Kleid! Für mich! Und es ist bunt!“
Seit mehr als zehn Jahren betreue ich eine sozial sehr herausgeforderte Familie. In Milieus gesprochen würde sie dem Prekariat angehören, der Unterschicht. Die Teenie-Tochter, die ich ins Erwachsenwerden begleitet habe, ist inzwischen selbst Mutter. Aufgrund ihrer Bildungsferne und ihrer kognitiven Einschränkungen fällt es ihr, genau wie der eigenen Mutter, schwer, die Kinder auf ihrem Entwicklungs- und Bildungsweg zu begleiten. Oft scheitert sie bereits an den täglichen Herausforderungen – wettergerechte Kleidung, gesundes Essen, Hilfe bei den Hausaufgaben.
Ihr achtjähriger Sohn kommt im Sommer nach nur einem Jahr in einer Regelschule auf eine Schule für Kinder mit Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Sein Fetales Alkoholsyndrom macht es ihm quasi unmöglich, einem geregelten Schulalltag nachzugehen oder Freundschaften zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Die Mitschüler haben sich abgewandt, die Lehrkräfte sind ein ums andere Mal überfordert, sodass er aufgrund seines Verhaltens von Ausflügen und Fahrten ausgeschlossen wird, ohne den Grund dafür nachvollziehen zu können.
Die siebenjährige Tochter wird im Sommer in die gleiche, in einem gutbürgerlichen Stadtteil gelegene, Regelschule eingeschult. Sie ist lernwillig, gesund – und familiär vorbelastet. Ob sie als Individuum oder Teil einer Problemfamilie gesehen wird, muss sich zeigen. Gut möglich, dass ihr Weg vorgezeichnet ist, bevor sie überhaupt selbst auf den Plan tritt. Wo ist der Ort, der sichere Rahmen für solch ein Kind, sich zu entfalten, wenn nicht in der Familie?
In einer Kirche oder Gemeinde, mag die schnelle Antwort der christlichen Leserschaft lauten. Wenn es nur so einfach wäre …
Gibt es die allseits beschworene Chancengleichheit in Deutschland wirklich? Ist jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied?
Diese Fragen möchte und muss ich mit einem klaren Nein beantworten. Wenn ein Kind in eine bildungsferne, von Armut betroffene Familie hineingeboren wird – und seien die Anlagen noch so gut – wird es nicht die gleiche Förderung und damit die gleichen Entwicklungschancen erhalten, wie ein Kind aus einem sozial besser gestellten Milieu. Das Leben dieses Kindes ist von Anfang an geprägt von Mangel, von Sorgen um das Wohlergehen der Familie und damit das eigene Wohlergehen, möglicherweise von Sucht- und psychischen Erkrankungen der Eltern.
Und mehr noch: eine Erhebung der OECD fand unlängst heraus, dass die soziale Mobilität in Europa ins Stocken geraten ist. Die Ungleichheit in den am höchsten entwickelten Industriestaaten nimmt seit den 90er Jahren stetig zu. Durch eine Arbeitsmarktpolitik, die auf immer höhere Gewinne ausgerichtet ist, wurde in Deutschland ein von Wirtschaft und Politik gefeierter Niedriglohnsektor aufgebaut. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass 42% der Kinder aus Geringverdiener-Familien ebenfalls Geringverdiener werden, der Rest schafft es in den allermeisten Fällen nur in die nächsthöhere Einkommensgruppe.
Mancher mag dann sagen: Sicherlich gelingt das Leben, wenn diese Menschen sich nur genug anstrengen würden. Doch das ist ein Trugschluss, denn selbst die Bemühtesten stoßen irgendwann gegen die gläserne Decke zwischen den sozialen Schichten (die im Übrigen genauso zwischen der Mittel- und Oberschicht existiert). Im Durchschnitt braucht es in unserem Land sechs (!) Generationen, um den Aufstieg in die nächsthöhere Schicht zu schaffen. Um alte Gewohnheiten abzulegen und neue zu erlernen, um Fuß zu fassen im neuen Umfeld, um sich „einen Namen zu machen“. Und dabei reden wir nicht vom kometenhaften Aufstieg, vom „Tellerwäscher zum Millionär“. Wir reden vom „Tellerwäscher zum Koch“. In 180 Jahren.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die Regel ist, dass Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen nicht die gleichen Chancen zur Entwicklung und Entfaltung haben und ihre Möglichkeiten daher sehr beschränkt bleiben.*
Was hat das alles aber mit Christen und Gemeinden zu tun?
Ich möchte behaupten, dass 95% der christlichen Kirchen und Gemeinden ihre Formen, Inhalte und Veranstaltungen hauptsächlich auf Menschen aus der Mittel- und teilweise aus der Oberschicht ausgelegt haben.
Kinder, die sich aufgrund eines Fetalen Alkoholsyndrom kaum fünf Minuten auf den Kindergottesdienst konzentrieren können, finden wir eher selten. Erwachsene, die nicht in der Lage sind, an der Bibelstunde teilzunehmen, da sie an Analphabetismus leiden – nahezu undenkbar. Und überhaupt – Gottesdienste und Veranstaltungen, die vor allem auf Wissensvermittlung (durch Kinderstunden, Bibelunterricht, Predigten, Seminare, Evangelisationen …) ausgerichtet sind, werden kaum Menschen aus bildungsfernen Milieus ansprechen. Zu groß ist die Angst, nicht zu verstehen, was gesagt wird und damit die eigene Unzulänglichkeit zugeben zu müssen. Einmal mehr die Erfahrung zu machen nicht mitreden zu können, nicht dazuzugehören. Auch aufgrund der Sprache, des Kleidungsstils, der Freizeitbeschäftigungen …
Gemeinde trägt häufig Kleider Ton in Ton. Das ist schick und modern – nicht nur in der Modebranche. Es bleibt zwar Platz für Schattierungen, jedoch kaum für harte Kontraste. Gleich und gleich gesellt sich gern, das ist per se nicht problematisch. Problematisch wird es erst, wenn diese Vorstellung von Gemeinde als allgemeingültig verstanden wird. Wir erwarten wie selbstverständlich, dass Menschen, die völlig anders sozialisiert sind, sich an unsere Abläufe, Regeln und Gebräuche anpassen. Dass sie den Sprung vom Rand in die Mitte der Gesellschaft in wenigen Wochen oder Monaten schaffen, der soziologisch gesehen im Durchschnitt knapp zweihundert Jahre dauern kann.
Wenn Jesus mit dieser Erwartung unterwegs gewesen wäre, hätte sein Tun wohl kaum Wirkung entfaltet. Stattdessen ist er – im wahrsten Sinne des Wortes – hinabgestiegen und wir sollten es ihm gleichtun. Der Weg führt von oben nach unten, nicht von unten nach oben. Wenn wir etwas bewegen möchten, dann sollten wir uns bewegen – hin zu den Menschen, denen der soziale Aufstieg aus eigener Kraft kaum gelingen kann.
Ich wünsche mir, dass wir die bunten Kleider der Vielfalt geistlicher Formen und Gemeinden anziehen. Dass wir Erwartungen, Strukturen und Kirche im Ganzen neu denken. Dass wir die gläsernen Decken zwischen den sozialen Schichten und die Grenzen in unseren Köpfen zerbrechen und anfangen, Gemeinde auf Menschen zuzuschneiden und nicht Menschen auf Gemeinde. Wir können soziales und geistliches Miteinander möglich machen, wenn wir es wollen.
Es liegt an uns.
Wir müssen nicht 180 Jahre warten.
*OECD (2018): A Broken Elevator? How to Promote Social Mobility. Paris.)
Das stimmt und ist so schwer umzusetzen, weil man sich nicht ohne Weiteres in die andere Ebene begibt. Aber:
Ich bin dankbar, dass ich die Chance hatte, solche Kinder, Teenys und Jugendliche in 10 Jahren Sola mitzuerleben und bei Workshops mit ihnen das Leben ein wenig teilen zu können. Es hat mich teilweise sehr erschüttert, mit welchen Problemen und Gegebenheiten sie zu kämpfen haben.
Einige durfte ich im Nachhinein noch treffen und mit ihnen reden, zuletzt vor der Steps-Konferenz, weil sie mich spontan besucht haben. Es hat mich tief berührt, wie konstant die jetzt Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen in ihrer Zuwendung mir gegenüber sind. Sie freuen sich so herzlich und ehrlich, mich zu sehen und zeigen das in ihren Umarmungen und dem, was sie mir erzählen. Und das, obwohl ich 50 Jahre älter bin als sie. Ich wünsche den Menschen in Stadtsee, dass sie Gott und den Herrn Jesus in ihrer für sie normalen Art und Weise erleben dürfen und dass sich Leute aufmachen, ihnen zu dienen und die jetzigen Mitarbeiter zu unterstützen, damit dort Gemeinde gebaut wird, in der sich diese für Gott wertvollen Menschen angenommen wissen, so wie Jesus es getan hat. Gottes Segen für alle, die sich jetzt schon in so besonderer Weise, mit einem weiten Herz für die Menschen vor Ort einsetzen. Eure Eva Kloft